Leseprobe
SCHÖNHEIT DES LEBENS
1
Eine Frau steht an der Reling und blickt nach innen. Ihre alterslose schlichte Schönheit gleicht einem ewigen griechischen Standbild. Trotz ihrer konventionellen Kleidung – sie trägt eine Bluse und einen knielangen, enganliegenden Rock – hebt sich ihre Gestalt deutlich von all den Menschen ab, die um sie herumwimmeln. Es ist aber eigentlich nicht ihre äußere Erscheinung, die sie aus der Masse heraushebt; denn diese unterscheidet sich nur in ihrer Vollkommenheit von den Mitreisenden. Die gedeckten Farben ihrer Garderobe, das flachsblonde Haar, die strahlend blauen Augen und die schlanke, aufrechte Gestalt: Alles fügt sich nahtlos ins Heer der restlichen Passagiere ein.
Was sie aber heraushebt, ist ihre Haltung, welche Ruhe und Besinnlichkeit, gleichzeitig jedoch eine zarte Verlorenheit ausstrahlt. Im Gegensatz zu ihr sind die anderen Passagiere nicht müßig, sondern eifrig damit beschäftigt, sich mit dem Nachbarn zu unterhalten, große Mengen von Getränken und Süßigkeiten in den Schiffsbüdchen zu ergattern oder die neusten Nachrichten auf ihrem Volksempfänger abzuhören. Als unvermittelt und in infernalischer Lautstärke die neusten Informationen zu Sehenswürdigkeiten aus den Lautsprechern schallen, richten sich unter vielen Ohs und Ahs alle Körper mit ihren Köpfen in Richtung Küste aus. Diese gleichgeschaltete Bewegung lässt die Frau mit einem Schlag aus ihrer inneren Versenkung aufschrecken.
»Na toll, jetzt bin ich schon wieder abgeschweift, anstatt einfach die Fahrt zu genießen … oder zumindest etwas über unsere einmalige Natur zu lernen.«
Diese Worte sind der innere Widerhall unzähliger Ermahnungen ihrer Lehrer, Kommentare ihrer Mitmenschen oder Neckereien ihres Mannes. Eine deutsche Frau ist tatkräftig und lebensbejahend: Sie grübelt nicht, sinniert nicht. Umgehend, aus einer Gewohnheit, die ihr beinahe inneres Gesetz ist, reißt sie sich zusammen, gefolgt von einem fast unmerklichen Zittern ihres gesamten Körpers. Mit einer Drehung um die eigene Achse taucht sie für einen Augenblick in die Gemeinschaft ein, doch ohne echten inneren Anteil, der sie mit der Realität verbindet, entschwebt ihre Fantasie wie ein schnurloser Ballon. Die Schultern schwenken traumwandlerisch zurück und ihre Haltung ist wieder dieselbe, wie zu Beginn der Bewegung.
Ein Traum hält sie gefangen, ein Traum der letzten Nacht, der ihr wirklicher war als manches Ereignis bei Tage. Warm und wohlig spürt sie noch immer die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, wo das Licht durch das Wasser bis zu ihr gedrungen war. Sie war Teil eines urzeitlichen Meeres, ihre Seele in unendlicher Ruhe und unendlich beruhigt und eins mit dem vollkommenen Ozean. Nun aber ist sie seltsam erregt, fast bestürzt.
»Dafür gibt es doch gar keinen Grund«, schießt es ihr in den Sinn, als ihre Gedanken an der Oberfläche Luft holen.
Es ärgert sie, dass sie sich in diesem besonderen Moment so wenig im Griff hat und ihn nun auf so sinnlose Art und Weise vergeudet, obwohl sie eben diesen Moment doch seit Monaten herbeigesehnt hatte.
»Na, träumst du schon wieder? Hier, dein Wasser.«
»Ach nein, ich schaue mir nur die Küste an«, antwortet sie betont gleichgültig. Ihr Mann sieht ihr aber auch alles gleich an. »Hast du dein Bier bekommen?«
»Irgendwas Lokales.« Er hakt seinen Ellenbogen um ihren Hals und küsst sie sehr feucht auf die Stirn.
Sie erwidert seine etwas ungestüme Zuwendung mit einer zarten Geste, indem sie seinen Oberarm leicht drückt, und versucht dann, sich vorsichtig aus dem Haken herauszuwinden, den sein Arm gebildet hat. Aber ihr Mann gibt sie im selben Moment frei, um sein Bier aufmachen zu können. Dabei erspäht er einen entfernten Kollegen von BMW.
»Wer hätte das gedacht, da ist ja der Wolfgang! Bin gleich zurück, Schatz!« Und schon entfernt er sich mit federndem Schritt in Richtung seiner Beute.
Das Münchener Ehepaar, Heidrun und Horst, ist ein Musterbeispiel einer erfolgreichen germanischen Eheanbahnung. Beide von auffallend makelloser arischer Schönheit und in Liebe und unbedingtem Vertrauen dem Vaterland und der Partei ergeben.
Er: tatkräftig, unermüdlich, eine Stütze für seinen Betrieb, seine Familie und sein Volk.
Sie: ruhig, bescheiden, dem Mann Kameradin, der Familie Herzstück. In manchem sehr verschieden und gerade
darum die perfekte Ergänzung.
Heidrun blickt ihrem Gatten liebevoll nach: »Was für ein schöner Mann er immer noch ist – von innen und außen!«
Natürlich hat auch er seine Fehler, etwa seinen brutal ausgeprägten Gemeinschaftssinn. Wahrscheinlich haben sie in ihren dreißig Ehejahren noch keine fünf Minuten allein zusammen verbracht. Sie muss leicht schmunzeln – schön wie Balder hat er ausgesehen, als sie sich kennengelernt haben. Es war eigentlich nicht besonders romantisch auf jener KdF-Reise gewesen, die speziell für erbgesunde Familiengründer mit Ahnenpass der Klasse I ausgerichtet worden war.
Aber es war Liebe auf den ersten Blick, wie es die Gebote zur Gattenwahl vorhergesagt hatten: Gleiches Blut führt zu einem Gleichklang der Seelen. Bereits im ersten Ehejahr kam Bernhard auf die Welt. Nur der Gott des reinen Lichts hatte so ein Kind zeugen können – ein Ebenmaß an Wuchs wie an Gesichtszügen und ein Charakter von einwandfreier nordischer Prägung. Wie hat sie dieses Kind geliebt, besonders die Augen! – ruhige graue Augen, die so sanft in die Welt blickten. Danach bekam sie noch drei weitere wunderbare Kinder, aber Bernhard blieb immer ihr Lieblingskind; unauflöslich durch unsichtbare Bande mit ihr verbunden. Umso bitterer war die Trennung, als er ihr mit zwölf Jahren entrissen wurde, um auf die Adolf-Hitler-Schule8 zu gehen.
Dies war zwar eine hohe Ehre, die ihrem Sohn jedwede Karriere in Partei und Staat eröffnete, doch in den folgenden Jahren sah sie ihn nur noch in den Ferien und auch diese waren angefüllt mit Schulungen, Veranstaltungen und Parteiabenden.
Die schönen grauen Augen blickten immer noch sanft, aber mit jedem weiteren Jahr prägte sich in ihnen ein melancholischer Zug aus, der so gar nicht zu seinem arischen Gemüt passen wollte. Und ebenso wuchsen über die Jahre die Sorgen seiner Mutter und hängen nun wie ein unheilvoller Schatten über ihrer Reise. Keine Mutter kann sich unbeschwert des Lebens freuen, wenn sie um das Wohl ihres Kindes bangt – wenn auch hoffentlich zu Unrecht. Heidrun fühlt sich innerlich zerrissen. Ihr Verstand sagt ihr zwar, dass es ihrer Familie, und das schließt auch Bernhard ein, gut geht und dass sie deshalb diese Reise genießen darf, ja sollte. Doch ihre Gefühle sprechen eine andere Sprache. Beklemmung und Albdruck steigen immer wieder in ihr hoch, und dann noch dieser seltsame Traum. Auf keinen Fall will sie jedoch ihre Lieben beunruhigen oder belasten. Sie beschließt, ihre Ängste für sich zu behalten. Äußerlich wird sie weiterhin ein Ebenbild an deutscher Gemütsruhe sein.
Sprachfetzen dringen undeutlich zu ihr herüber und beenden ihr Kopfzerbrechen.
»NS-Musterbetrieb – ich habe selbst das betriebliche Vorschlagswesen verziffert – Preis erhalten – Reise geehrt.«
Ja, sie hatten die Reise tatsächlich als Anerkennung für den Einsatz ihres Mannes im Leistungskampf um den NS-Musterbetrieb von BMW bekommen. Noch mehr als die Reise als solche hat sie jedoch die Aussicht erfreut, Bernhard wiedersehen zu können, denn dieser ist in der Zwischenzeit SS-Propagandaleiter im KdF-Bad Rügen geworden. Ihre Hoffnung, was den Umfang seiner Freizeit angeht, ist nicht allzu groß – aber die wenige Zeit mit ihm will sie nutzen, um all ihre Bedenken zu zerstreuen, und jede Minute mit ihm will sie wie einen Schatz in ihrer Seele aufbewahren.
Ein Fanfarenstoß lässt das Schiff erzittern und wieder wenden sich alle Gesichter, in Vorfreude getaucht, nach rechts.
»Heil Hitler, liebe Volksgenossen, Sie sehen auf Ihrer rechten Seite eine einmalige deutsche Kulturlandschaft, die in der Welt ihresgleichen sucht. Das Volkserbe-Zentrum Königsstuhl hat mit seinem Meer, der Kreideküste und den Alten Buchenwäldern schon unsere Vorfahren zum Bleiben eingeladen und zu ersten Kulturleistungen inspiriert – im heroischen Ringen mit Eiszeiten und Sturmfluten. Danach haben ungezählte Künstler wie Caspar
David Friedrich, Johannes Brahms und Theodor Fontane die Fahne ergriffen und das Banner der deutschen Kultur weitergetragen. Bitte kontrollieren Sie auf ihrem Volksempfänger (VE), ob Sie im Kulturthing für einen Tag mit genauer Uhrzeit eingeteilt wurden. Seit über elftausend Jahren haben genau hier die ersten Herrenmenschen deutschen Boden geformt. Die Hundertschaften ihrer Hünengräber sind beredtes Zeugnis ihres Opferwillens. Tauchen Sie ein in die historischen Stätten unserer Volksseele und nehmen Sie dies als Maß Ihres täglichen Strebens für das Vaterland. Wir werden nun in wenigen Augenblicken in die Prorer Wiek einlaufen, wo Sie einen ersten überwältigenden Eindruck des KdF-Bades Rügen erhalten. Das erste Volksbad der Welt, noch vom Führer persönlich in Auftrag gegeben für sein geliebtes Volk, der Grundstein eigenhändig von ihm gelegt. Wir werden in circa 15 Minuten anlegen, bitte erweisen Sie der Liebe des Führers Respekt, kontrollieren Sie den anständigen Sitz der Uniform. Es folgt die Erste Sinfonie, op. 68, von Johannes Brahms, die er hier vollendet hat. Ein wahres arisches Genie. Heil Hitler!«
Unter dem opulenten großartigen Finale der Sinfonie setzt eine Kakofonie der Aktivitäten ein: Mütter rufen ihre Kinder, Männer suchen ihre Frauen, Uniformen werden glatt gestrichen, Frisuren kontrolliert. Die Posaunen erhöhen derweil das Tempo und die Klarinetten setzen ein. Kontrollwütige bestätigen ihre Termine im Volksempfänger und fast scheint es, als erzeugte das Orchester der Tippenden und Wischenden den Klang der Streichinstrumente. Auch Horst hetzt zu seiner Frau zurück.
»Sitzt bei mir alles? Ich hätte doch meine Uniform als Betriebsobmann anziehen sollen! Schau dich um, fast alle sind in Uniform!« Gequält blickt er Heidrun an.
»Ach Schatz, deine Leistungen und deine Liebe zum Volk sind dein Ehrenkleid! Die anderen brauchen vielleicht
eine Uniform, um stolz und edel zu wirken, doch dir ist der Adel auf den Leib geschrieben. – Außerdem hast du doch die wichtigsten Orden am Revers«, beruhigt ihn Heidrun und kontrolliert dabei mit einer liebevollen Geste deren Befestigung.
»Sitzt denn meine Frisur noch? Ich habe mir extra die Haare wie unsere Führerin geflochten.«
Ihr blondes Haar ist tatsächlich zu drei dicken Zöpfen geflochten, die so um den Kopf gewirkt sind, dass sie das Gesicht wie eine Krone umrahmen. Sie wirkt dadurch noch erhabener als sonst.
»Du siehst wunderschön aus – wie Kriemhild! Aber wo ist denn dein Ehrenkreuz als deutsche Mutter?«
»Ach, ich habe doch nur vier Kinder«, entgegnet Heidrun und blickt betreten zu Boden, »warum deswegen das Kreuzanstecken?«
»Du hast mit unseren vier Kindern mehr zur Verbesserung des Rassekerns beigetragen als manche mit acht! Darauf kannst, nein, darauf musst du stolz sein!«
Mit einem Seufzer nimmt sie den Orden aus der Handtasche und ihr Mann befestigt ihn an ihrer Bluse, nicht ohne sie noch so fest zu drücken, dass das Kreuz einen tiefen schmerzhaften Abdruck in ihrer Haut hinterlässt. Ein kräftiger Stoß aus dem Schiffshorn beendet das allgemeine Treiben:
Vor ihnen liegt Prora.
2
In einem makellosen Bogen öffnet sich die Bucht und gibt eine Szenerie frei, wie sie ein Urlaubsprospekt kaum idyllischer ausmalen könnte: Ein bilderbuchartiger Sandstrand rahmt das gesamte Areal ein. Wogende Kiefernwälder setzen grüne Akzente im Spiel von Weiß und Blau. Linker Hand schmiegt sich ein kleines pittoreskes Städtchen an den Meeresbusen, das aber kaum Beachtung findet. Alle Blicke werden magisch von dem monumentalen Lindwurm angezogen, der sich auf der schmalen Heide niedergelassen
hat, um seine Schätze zu bewachen. Nur Eingeweihte und Gläubige dürfen ohne Reue verweilen, jedweder Eindringling würde dagegen durch Drachenblick in Stein verwandelt und selbst zu einem Teil der Wohnstatt.
Es scheint, als ob ganze Armeen bereits bei solchem Versuch gescheitert wären – denn die Anlage ist gewaltig.
Der Lindwurm hat seinen gesamten Leib parallel zur Küste ausgestreckt, auf fast fünf Kilometern reckt sich die Hauptfront des KdF-Bades dem Besucher herausfordernd entgegen. Tausende Fenster und Glasfronten glänzen wie Schuppen eines Drachenpanzers im Sonnenlicht. Wie Klauen greifen zwei riesige Seestege nach dem Schiff. In der Mitte thront die gigantische Festhalle, umgeben vom Festplatz. Hier schlägt das Herz der Volksge meinschaft, denn hier kommt sie zusammen. Zu beiden Seiten umfassen die Halle vier Flügel mit Wohnhäusern und Gemeinschaftsräumen, die Schiffen gleichen, welche vor langer Zeit hier angelandet sind und nun eine amphibische Brücke zwischen Meer und Land bilden. Das Auge des Ungeheuers blickt vom 85 Meter hohen Turm ewig prüfend und unbestechlich. Dutzende von hünenhaften roten Hakenkreuzfahnenwiegen sich majestätisch im Wind, wie riesige Adern durchziehen sie das gesamte Areal, schmerzlicher Blutzoll der Unwillkommenen. Menschenmaterial bewegt sich ameisengleich an Stränden, Kaimauern und Gehwegen; angetrieben von einem Willen, hypnotisiert vom unbarmherzigen Auge der Bestie, gehorsam, zur Tat bereit. Stein gewordene Verkörperung eines Glaubens.
Heidrun fühlt sich selbst bereits wie versteinert, fasziniert und beeindruckt kann sie ihren Blick nicht abwenden. Fast kann sie spüren, wie das Auge auf ihr ruht. Ist sie willkommen? Wer hat bereits vor ihr bluten müssen?
Wieder steigt eine Vorahnung in ihr auf, der sie kaum Herr wird.
»Das ist ja recht hübsch, aber geradezu mickrig im Vergleich zu unserer Reichskanzlei«, posaunt ein fast zwei Meter großer Hüne in grauer Uniform, die an neuralgischen Punkten bereits erschreckend spannt, herablassend heraus.
»Mal wieder typisch! Unsere lieben Brüder aus Germania meinen, sie wären die Größten«, raunt Heidrun ihrem Mann missbilligend zu.
»He, Volksgenosse, ihr habt vielleicht die größten Bauten, aber das Braune Haus steht in München und die Hauptstadt der Bewegung bleiben wir! Ich finde es nicht gerade angemessen, wenn du so despektierlich von Hitlers ureigensten Bauten sprichst!«
Horst baut sich eindrucksvoll vor dem SS-Mann auf. Ein zustimmendes Murmeln dringt von den Umstehenden zu ihnen. Der Germanier blickt dem Münchner missmutig direkt ins Gesicht, dann entspannen sich seine Gesichtszüge und es folgt ein kehliges Lachen.
»Wohl gesprochen, Genosse, manchmal werden wir etwas übermütig und glauben, wir sind die Größten – aber keiner von uns wäre etwas ohne den anderen!«, spricht er zu allen, dabei legt er Horst wohlwollend die Hand auf die Schulter.
Die Musik ist während des Disputs verklungen. Wie auf ein Kommando versuchen nun fast alle die Panoramafunktion der Kamera ihres Volksempfängers zu aktivieren, um die knappe Zeit, bis zum Anlegen, für ein Foto zu nutzen; nur von der Seeseite ist ein ganzes Bild des kolossalen Seebades möglich. Jeder will Freunde, Bekannte, Kollegen, Volksgenossen unmittelbar und umfassend teilhaben lassen und so werden eifrig Bilder und Texte ins Sippenbuch und in die Grußrune eingestellt.
»Wir empfehlen Ihnen, die KdF-Bad-Rune auf Ihren VE herunterzuladen, neben Informationen und Plänen finden Sie auch eine Auswahl der besten Bilder und Filme«, plärrt es derweil aus dem Lautsprecher.
Erleichterung. Unverstellter Blick auf das Seebad.